- chinesisches Theater als Gesamtkunstwerk
- chinesisches Theater als GesamtkunstwerkDie Theaterkunst stellte im vormodernen China für die Bildungsschicht ein wenig geachtetes, ja sogar manchmal direkt suspektes Genre dar. War sie doch notwendigerweise, um beim Vortrag verstanden zu werden, nicht in der klassischen Schriftsprache, sondern in der gesprochenen Sprache abgefasst, nicht an ein elitäres, sondern an ein breiteres Publikum gerichtet und auch vorwiegend von wandernden Truppen getragen. Über die frühe, von der sonst so emsigen Historiographie unterschlagene Geschichte des Theaters können wir uns daher bis ins 11./12. Jahrhundert n. Chr. hinein nur schattenhafte Vorstellungen machen. Aus archäologischen Funden und gelegentlichen Randbemerkungen in der Literatur lässt sich jedoch schließen, dass dramatische Vorformen, die praktisch immer mit Musik begleitet waren, schon seit mindestens dem Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. existiert haben müssen, und zwar einerseits im Rahmen religiöser Rituale (bei denen auch Nebenformen des Dramas wie Puppen- und Schattenspiel eine große Rolle spielten), andererseits als populäre Belustigung (die auch an den Adelshöfen ihren Platz hatte). Die Umgebung von Tempeln und Vergnügungsstätten stand dementsprechend auch später immer in enger Beziehung zur Bühne. Während der weltoffenen Tang-Dynastie und in der Periode davor zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert, in der Fremdvölker Nordchina beherrschten, wurde das Theater sicher auch durch Einflüsse aus Zentralasien und vor allem Indien befruchtet. Nicht zuletzt weisen bestimmte umgangssprachliche buddhistische Literaturstücke (»bianwen«) in diese Richtung. Unmittelbare Vorläufer der Theaterkunst waren dann die »gemischten Aufführungen« (»zaju«) der Song-Zeit, die varieteeartig von Couplets und Sketchen bis hin zu Akrobatik und Gaukleraufführungen ein buntes Programm boten. Soziologisch waren Hintergrund und Voraussetzung dafür die sich neu herausbildenden städtischen Zentren, in denen eine neue, relativ wohlhabende Schicht weithin führend war.Den Durchbruch und zugleich den literarischen Höhepunkt der Theaterkunst brachte jedoch die Eroberung Chinas durch die Mongolen im 13. Jahrhundert, die die chinesische Bildungsschicht zeitweilig völlig aus ihren politischen Ämtern entfernte und ihr Interesse dadurch auf trivialere geistige Beschäftigungen lenkte. Hieraus entstanden die berühmten »Yuan-Dramen«, unter deren Autoren vor allem Guan Hanqing hervorragte. Von dem sonst wenig bekannten Wang Shifu stammt aber das wohl berühmteste Stück, das »Xixiang ji« (»Geschichte vom Westzimmer«), das nach einer autobiographischen tangzeitlichen Novelle die unglücklich verlaufende Liebesgeschichte eines jungen Literaten zu einem Mädchen aus gutem Hause schildert. Die Yuan-Dramen gewannen ihren hohen künstlerischen Wert aus der Verbindung der Originalität vielschichtiger volkstümlicher Traditionen und dem literarischen Qualitätsgefühl der sie nun aufgreifenden Gelehrten.Es wurden dabei bereits einige Eigentümlichkeiten geprägt, die für das chinesische Theater überhaupt typisch werden sollten. Dazu gehören die stark symbolische Darstellungsform mit einer relativ einfachen, ursprünglich nur aus einer Plattform bestehenden, aber auch später nur sehr sparsam mit Requisiten und Kulissen umgehenden Bühne (über die wir uns durch plastische Modelle als Grabbeigaben eine Vorstellung machen können), ferner die Festlegung auf bestimmte Rollentypen (»jiaose«) mit den drei Grundformen der männlichen Hauptfigur (»mo«), der weiblichen Hauptfigur (»dan«) und des Bösewichts oder Clowns (des »Jing«, der am frühesten mit Schminkmaske ausgestattet wurde). Später wurden diese Figuren, auch terminologisch, weiter stark differenziert und variiert. Schließlich gehört zu den bereits früh ausgeprägten Charakteristika die in allen Theaterformen mehr oder weniger stark erkennbare Verbindung von Gesang, Gestik und Mimik, Deklamation und Akrobatik zu einer Art Gesamtkunstwerk. Das traditionelle Theater steht also aus westlicher Sicht prinzipiell der Oper näher als dem Sprechtheater und geht über deren Grenzen noch weit hinaus. Thematisch wurden in den Stücken Geistergeschichten, Liebesromanzen, Heldenabenteuer (meist mit realem historischen Hintergrund) und bald auch Kriminal- und Gerichtsfälle (entweder staatstreu mit moralisierender oder umgekehrt mit sozialkritischer Tendenz) behandelt.Trotz aller dieser Gemeinsamkeiten bildeten sich im chinesischen Theater früh starke, vorwiegend regional geprägte Gegensätze heraus, und zwar am deutlichsten zwischen dem seit der frühen Yuan-Zeit entstandenen »Nord-Stil« und dem etwas später aufkommenden »Süd-Stil«. Für den Nord-Stil typisch war die strenge Gesetzmäßigkeit auf verschiedenen Ebenen: Jedes Stück musste aus vier Akten bestehen, ergänzt durch ein Vorspiel und manchmal auch noch durch einen Epilog. Unter den Rollentypen kam in einem Stück nur einer einzigen Rolle der Gesangspart zu, nämlich der männlichen oder der weiblichen Hauptperson, die dadurch zwangsläufig und durchaus beabsichtigt ins Zentrum der Handlung rückte. Für die Musik gab es festgelegte Melodiemuster, die von hochtonigen Streichinstrumenten begleitet wurden. Die Arien wurden syllabisch vorgetragen, also mit je einer Silbe (oder einem Wort) pro Note. Feste Regeln galten auch für Mimik, Gestik, Bühnenausstattung und die Verwendung von symbolischen Requisiten. All dies hinderte nicht die betonte Verwendung von Vulgär- und Dialektausdrücken, die den Stücken Farbe verliehen.Der Süd-Stil, der sich bereits gegen Ende der Yuan-Dynastie allmählich in den Vordergrund schob und dann in der Ming-Dynastie glanzvoll durchsetzte, erschien demgegenüber ungleich freier gestaltet. Charakteristisch für ihn war die große Zahl von Akten - häufig über fünfzig, zuweilen mehr als hundert -, die in den »Langdramen« (»chuanqi«) einen äußerst komplizierten zusammenhängenden Handlungsablauf wiedergaben, gerade wegen ihres Umfangs aber zwangsläufig immer nur in Ausschnitten (oder über viele Tage verteilt) gespielt werden konnten. Gesangspartien durften von allen Rollentypen gleichzeitig übernommen werden; sie wurden meist melismatisch, das heißt mit Silben (oder Wörtern), die sich jeweils über mehrere Melodietöne hinziehen konnten, vorgetragen und von Flöten begleitet. Außer in der reichen Entwicklung verschiedener Lokalformen fand der Süd-Stil seinen Höhepunkt dann in der Opernform des Kunqu, das die für den Süd-Stil ohnehin typische sprachliche Eleganz (die Libretti waren deshalb auch als reiner Lesestoff beliebt) mit musikalischem Formenreichtum verband. Förderer des Kunqu waren unter anderen die wohlhabenden Schichten im prosperierenden Südosten, die sich auch private Aufführungen in kleinerem Zirkel leisten konnten. Zum Hauptzentrum des Theaters im Süd-Stil entwickelte sich die Stadt Suzhou. Auch unter der Mandschu-Dynastie der Qing feierte das Kunqu zunächst weiterhin Triumphe. Sein Niedergang - und damit der Niedergang des Süd-Stils überhaupt - setzte erst etwas später durch die Tendenz zu allzu artifiziellen Formen ein, die letztlich den Verlust des Interesses einer breiteren Öffentlichkeit nach sich zog.Seit Ende des 18. Jahrhunderts erwuchs dem Theater im Süden und Südosten aber auch eine neue Konkurrenz in der Theaterkunst der Hauptstadt Peking. Aus der Vermischung verschiedener Lokalstile ging dort allmählich die »Hauptstadt-Oper« (»jingxi«) hervor, die im Westen als »Peking-Oper« bekannt wurde und in vieler Hinsicht an den alten Nord-Stil anknüpfte. Das galt namentlich für das überwiegende Einsetzen von Schlaginstrumenten in der Musik, für die Verwendung von Vulgärausdrücken, für die wenigen Akte, die genau bestimmten Rollentypen und die festen Regeln für den Gebrauch von Requisiten (Kostüme, Masken, symbolhafte Accessoires). Literarisch aber war die Peking-Oper mit ihren oft improvisierten, von den Schauspielern vielfach selbst verfassten Texten weitgehend bedeutungslos.Die erste, wenngleich völlig indirekte Berührung mit dem chinesischen Theater erfolgte im Westen bereits im 18. Jahrhundert mit der Übersetzung von Yuan-Dramen durch chinesische Jesuitenmissionare, die in der europäischen Fachwelt großes Aufsehen erregten. Sie wurden zuweilen aufgeführt oder als Anregung genommen für eigene »chinesische« Theaterstücke, die aus einer weit verbreiteten Faszination durch (Ostasien und speziell) China entstanden. Höchste Berühmtheit erlangte das Stück »Zhaoshi guer« (»Die Waise aus dem Hause Zhao«) eines sonst nicht weiter berühmten Autors um 1300, für das sich sogar Voltaire interessierte. Zum frühesten unmittelbaren Kontakt mit dem chinesischen Theater kam es aber erst 1919 durch eine Tournee des berühmten Schauspielers Mei Lanfang, der als Frauendarsteller - weibliche Rollen wurden generell sehr oft von Männern übernommen - hervorgetreten war. Die einfache, aber sehr publikumsnahe Bühnenausstattung mit ihren symbolträchtigen Attributen regte auch manche westliche Autoren (zum Beispiel Bert Brecht) an. Umgekehrt wurde China seit 1907 über Japan mit dem westlichen Sprechtheater bekannt, das sich in Wandertruppen verbreitete. Während der »Kulturrevolution« entstanden zudem kurzfristig politische Propagandastücke, in denen sich Elemente aus Peking-Oper und Sprechtheater mischten. Obwohl die traditionelle Theaterkunst in dieser Periode vehement bekämpft wurde, geriet sie keineswegs in Vergessenheit, sondern konnte sich bis in die Gegenwart hinein selbst in Film und Fernsehen lebendig halten.Prof. Dr. Wolfgang Bauer (✝)Schmidt-Glintzer, Helwig: Geschichte der chinesischen Literatur. Die 3000jährige Entwicklung der poetischen, erzählenden und philosophisch-religiösen Literatur Chinas von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bern u. a. 1990.
Universal-Lexikon. 2012.